Welt | Mittwoch, 15. Februar 2023 um 06:10
Nigeria wäre vor allem an Bodenschätzen reich. Die Schätzungen basieren auf rund 37 Milliarden Barrel Ölreserven. Dennoch muss das Land mangels ausreichend leistungsfähiger Verarbeitungsanlagen raffiniertes Öl importieren – im Wert von umgerechnet rund 25 Milliarden Euro pro Jahr. Nigeria hat oft mit einer geringen Stromproduktion und einer begrenzten Übertragungsinfrastruktur zu kämpfen. Viele Haushalte und Unternehmen verwenden dieselbetriebene Generatoren. Bis Ende dieses Jahres will die Regierung jedoch dank verbesserter und neuer Raffinerieinfrastruktur auf Ölimporte verzichten können. /iStockphoto/Peeterv Hängt vom Öl ab Nigeria ist nach wie vor wirtschaftlich vom Öl und damit von schwankenden Ölpreisen abhängig. Die notwendige breitere Aufstellung der Wirtschaft ist noch nicht gelungen. Allerdings hinkt auch die Ölförderung ihrem Potenzial hinterher. Im vergangenen August war es mit einer Produktionsmenge von weniger als einer Million Barrel pro Tag auf dem niedrigsten Stand seit 1990. Eine Folge des geringeren Produktionsvolumens ist der Rückgang der Deviseneinnahmen. Nigeria kämpft mit engen Devisen- und Liquiditätsengpässen. Das Land erhält Devisen hauptsächlich durch den Export von Öl. Diese fehlen nun aber aufgrund des Einbruchs der Ölexporte. Milliardenverluste durch Öldiebstahl Laut OPEC haben Angola und Libyen Nigeria vorübergehend als Afrikas größten Rohölproduzenten überholt. Der Erdölindustrie-Experte Omowumi Iledare sieht in einem Interview für „The Conversation“ mehrere Faktoren als Ursache: Verfall der notwendigen Infrastruktur, geringe Erschließung neuer Felder, Diebstahl und Vandalismus. Erst Ende letzten Jahres ergab eine Untersuchung des Senats im nigerianischen Parlament, dass allein zwischen Januar und August 2022 mehr als zwei Milliarden Dollar durch Öldiebstahl verloren gegangen sind. Dem Senatsbericht zufolge können knapp zwei Drittel der nigerianischen Ölförderung „effektiv garantiert“ werden. Iledare kritisierte die unsicheren Investitionen. Ihm zufolge werden täglich 400.000 bis 500.000 Fässer gestohlen. Aber das passiert nicht durch die Pipelines. Es sei unglaublich, „dass so viel Rohöl unter den wachsamen Augen der Sicherheitskräfte bewegt werden kann“. Diese Menge kann nicht gestohlen werden, indem man einfach die Pipelines im Nigerdelta anzapft. Ölkonzerne ziehen sich zurück Für das erste Quartal 2023 rechnet die nigerianische Regierung nun mit einem Anstieg der Ölförderung auf 1,6 Millionen Barrel pro Tag. Bereits im letzten Quartal 2022 sei die Fördermenge schrittweise gestiegen. Dennoch kehren einige westliche Ölkonzerne, darunter Shell, Exxon und Total, Nigeria teilweise oder ganz den Rücken – nicht zuletzt wegen der schlechten und fehlenden Infrastruktur. IMAGO/Jörg Boethling Ohnehin ist die politische Elite eng mit dem Ölgeschäft verbunden. Der derzeit amtierende Präsident Muhammadu Buhari war Ende der 1970er Jahre Vorsitzender der damals gegründeten Nigerian National Petroleum Corporation . Berichten zufolge verschwanden während seiner zweijährigen Amtszeit 2,8 Milliarden US-Dollar von NNPC-Konten in Großbritannien. Beweise für Unterschlagung wurden nie gefunden. Über diesen staatlichen Mineralölkonzern sind nigerianische Politiker jedoch bis heute in das Ölgeschäft involviert – und machen damit laut Beobachtern Geld. Schwieriger Kampf gegen Korruption In einer kürzlich durchgeführten Analyse, wie Nigeria sein Potenzial besser nutzen könnte, schlug das in Südafrika ansässige Institute for Security Studies mehrere Maßnahmen vor – darunter die Verbesserung wichtigsten Infrastruktur, der Bildungs- und Gesundheitssysteme, eine größere Effizienz in Landwirtschaft und eine breitere Wirtschaft. In Nigerias Analyse ist es jedoch nicht das Fehlen von Entwicklungsplänen, sondern Fähigkeit zu deren Umsetzung, die das Institut vor allem mit Blick auf schwachen politischen Institutionen analysiert hat. Nigeria belegt den 150. Platz im Korruptionsindex von Transparency International, die Wahrnehmung der Ausbreitung von Korruption und Maßnahmen zur Bekämpfung Korruption im öffentlichen Sektor berücksichtigt. Laut einer Analyse der nigerianischen Financial Intelligence Unit haben Beamte zwischen 2015 und 2022 den Gegenwert von fast 2,45 Milliarden US-Dollar von Regierungskonten abgehoben. Die meisten von ihnen überschritten die bisherigen Auszahlungslimits. März will die NFIU Beamten verbieten, Bargeld von Regierungskonten abzuheben. Damit will die Behörde Geldwäsche und Korruption bekämpfen. Zwei Drittel unter 30 Jahre Für Soziologin Nigeria-Expertin der Denkfabrik Chatham House, Leena Koni Hoffmann, besteht die größte Aufgabe Nigerias darin, wirtschaftlichen politischen Herausforderungen so anzugehen, „dass Vertrauen entsteht der Gesellschaftsvertrag zwischen den meist jungen Nigerianern gestärkt erneuert wird politische Führung". Temilade Adelaja Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind laut dem nigerianischen Statistikamt unter 30 Jahre alt. Das Durchschnittsalter liegt bei 18 Jahren. Die Jugendarbeitslosigkeit liege bei über 42 Prozent, sagte Hoffmann gegenüber ORF.at. Gut kommunizierte Reformen sind erforderlich. Chaos durch Kassenreform Eine Bargeldreform sorgt derzeit für Chaos, was zu einer drastischen Geldknappheit in der Bevölkerung geführt hat. Ein großer Teil der täglichen Ausgaben basiert auf Barzahlungen. Laut Regierung sollte die alte Währung bis Ende Januar ausgelaufen sein, neue Scheine sind aber kaum noch erhältlich. Die Folge sind lange Schlangen vor Geldautomaten. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Laut dem nigerianischen Zweig der Konrad-Adenauer-Stiftung hungern viele Menschen, weil sie kein Geld mehr bekommen. Die Zentralbank macht Gier und Korruption verantwortlich. Geld würde zum Beispiel von Bankangestellten gehortet. Auf dem Schwarzmarkt bekommt man tatsächlich Scheine für einen erheblichen Aufpreis. Fachkräfte verlassen das Land Während sich einige illegal bereichern, kämpft das Land mit steigender Arbeitslosigkeit und einer hohen Inflation von über 20 Prozent. Laut Weltbank leben 80 Millionen Nigerianer unterhalb der Armutsgrenze, Tendenz steigend. Wie in anderen Ländern ist die Inflation auf den Ukrainekrieg und die Pandemie zurückzuführen. Weitere Treiber in Nigeria sind die Schwierigkeiten der Bauern bei der Bewirtschaftung ihrer Felder durch Angriffe von Islamisten und Entführern – in Verbindung mit einer protektionistischen Regierungspolitik. Dadurch stehen weniger Lebensmittel zur Verfügung und die Preise steigen. Mit den steigenden Lebenshaltungskosten geht ein zunehmender Braindrain einher, darunter Ärzte, Krankenschwestern, IT-Experten und Ingenieure. Verlässliche Statistiken dazu gibt es nicht. Aber allein für Großbritannien hat sich die Zahl der Arbeitsvisa für Nigerianer laut seit 2019 vervierfacht. Tausende sterben an internen Konflikten Erschwert wird die Situation durch die dramatische Sicherheitslage im Land aufgrund der zahlreichen gewalttätigen Konflikte. Laut der International Crisis Group wurden im vergangenen Jahr mindestens 10.000 Menschen in bewaffneten Konflikten getötet und mehr als 5.000 entführt. "Die Menschen haben erkannt, dass niemand das Gewaltmonopol hat, deshalb greifen jetzt alle zur Gewalt", sagte der Nigeria-Experte Liborous Oshoma dem Spiegel. Dies trägt dazu bei, dass sich Nigeria zu einem „failed state“ entwickelt. Über 250 ethnische Gruppen Zu den größten ethnischen Gruppen in Nigeria gehören: Hausa: Muslime, besonders im Norden Yoruba: keine dominierende Religion, Mehrheit im Südwesten Igbo: Christ, dominant im Süden Die Dschihadistengruppe Boko Haram und die Splittergruppe Islamischer Staat in der Westafrikanischen Provinz verüben vor allem im Nordosten Anschläge. Zuletzt weiteten sich die Angriffe auf die Hauptstadt Abuja in Zentralnigeria aus. Im Norden Nigerias gilt die Scharia. Im Nordwesten und in Teilen des Südwestens führen bewaffnete Banden Entführungen und Lösegelderpressungen durch. Dazu gehört die Entführung von Hunderten von Studenten. Die Klimakrise schürt Konflikte zwischen Hirten und Bauern In Zentralnigeria kommt es zu blutigen Zusammenstößen zwischen muslimischen Fulani-Hirten und Bauern, von denen die meisten Christen sind. Hinzu kommen ethnische und religiöse Spannungen. Darüber hinaus ist es laut Experten auch ein Kampf um Platz. Bevölkerungswachstum und Klimakrise führten zu einer Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen bei gleichzeitig geringeren Chancen. Die Wüste breitet sich nach Norden aus, während sich die Strände an der Küste verengen. Dadurch verringert sich Weideflächenbedarf der Rinderherden Nomaden. „Kritisches Ausmaß“ der Bedrohung Die „Bedrohung durch islamistische Aufständische und andere bewaffnete Gruppen“ hat kritische Ausmaße erreicht, sagte Anietie Ewang, Nigeria-Forscherin bei Human Rights Watch. Bauern verlassen ihre Felder aus Angst, überfallen zu werden, und Hirten sind gezwungen, sich neues Weideland zu suchen. Im Nigerdelta im Südosten streben die 2014 gegründete Separatistengruppe Indigenous People of Biafra und ihr nahestehende bewaffnete Gruppen einen eigenen, von Nigeria losgelösten Staat an. Die Bewegung wird in Nigeria als Terrorgruppe eingestuft. Sie soll seit Anfang 2021 einige Sicherheitskräfte getötet und Polizeistationen zerstört haben. Der Biafra-Krieg Bereits 1967 wurde die unabhängige Republik Biafra ausgerufen, gefolgt vom fast dreijährigen Biafra-Krieg, der Schätzungen zufolge mehr als eine Million Menschen durch Krieg und Hunger tötete. Die Gruppe bestreitet Verantwortung für die Gewalt, hat aber seit 2021 einen wöchentlichen Hausarrest verhängt, der wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten im Südosten vollständig lahmlegt. Zunahme der Gewalt vor den Wahlen Allerdings sei IBOP so fragmentiert, dass man kaum von einer kohärenten Bewegung sprechen könne, sagte James Barnett vom Hudson Institute in Washington dem Guardian. Viele Kriminelle und politische Schläger würden IBOP als Tarnung benutzen. Februar ist in allen Konfliktregionen des Landes bereits eine Zunahme der Gewalt zu beobachten. Die NGO The Armed Conflict Location and Event Date Project beziffert die Zahl der Todesopfer im Zusammenhang mit den Wahlen seit Ende September auf über 2.700. Der Guardian berichtete von Dutzenden Angriffen auf Mitarbeiter und Einrichtungen der Wahlkommission zwischen den Wahlen 2019 und Ende 2022. Aufgrund dieser Entwicklung wurden die Wahlen sogar vorübergehend verschoben. Gotopnews.com
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